Warum braucht sich oder sollte sich ein CRPG nicht sklavisch an die P&P-Regeln halten:
1) Wenn ein einzelner Kampf am Spieltisch mal eine Stunde und mehr kostet, ist das akzeptabel und kann durchaus auch dann noch spannend sein. Wenn ein einzelner Kampf im CRPG 15 Minuten und mehr dauert, ist das sterbenslangweilig.
2) In vielen Bereichen sind P&P-Regeln vom "ermessen des Spielleiters" abhängig und kaum in Code zu fassen. Ein Spielleiter kann auch mal die Gemütslage der Gruppe, die Uhrzeit, die Dauer der aktuellen Spielsitzung und den allgemeinen Lust- oder Frustfaktor mit einbeziehen. Ein CRPG kann das einfach nicht leisten
3) Egal wo und wann und in welchem Bereich, ein Spiel muss sich immer mit seiner direkten Konkurrenz vergleichen lassen. Ob das jetzt ein DSA P&P ist, das sich mit (A)D&D, GURPS, Vampire, Shadowrun, FATE und whatnot vergleichen lassen muss (und dabei IMHO hundsmieserabel abschneidet), oder ein Schick HD, das sich mit Skyrim, Age of Decadence, Pillars of Eternity, Blackguards und einem ganzen anderen Haufen Spielen vergleichen lassen muss (und dabei genauso hundsmieserabel abschneidet). Und wenn die Regeln, egal wie sklavisch nach Buch umgesetzt, einfach keinen Spaß machen, dann müssen sie halt angepasst werden - nicht umsonst ist es bei Blackguards möglich, seine Talentpunkt-Zuteilung bei den Waffentalenten nahezu jederzeit zu ändern, nicht umsonst wurde eine ganze Liste von Talenten dort einfach weggelassen.
4) Die Berechnung der Chancenformel für eine 3W20-Probe mit allen Sonderregeln (Modifikator, Patzer, Autoerfolg usw.) füllt eine volle Bildschirmbreite. In normaler Schrift. und FullHD. Man braucht als Spieler JAHRE, um ein Gefühl für die tatsächliche Schwierigkeit einer Probe zu bekommen, und täuscht sich selbst dann noch gelegentlich. Ich habe versucht, diese Formel zu programmieren, um eine Erfolgswahrscheinlichkeit im Spiel darzustellen. Und der "Brute Force"-Ansatz (alle 8000 Möglichkeiten probieren, Erfolg prüfen und zählen) war *einfacher* UND *schneller* - das will was heißen.
Die Regeln von DSA mögen "schon seit langer Zeit da gewesen" sein, deswegen sind sie aber noch lange nicht "perfekt balanciert", genauso wenig wie in der Bibel oder jedem beliebigen anderen hinreichend alten Buch "nur die Wahrheit" steht, nur weils das Ding schon so lange gibt. Es gibt so etwas, das nennt sich "Gewöhnungseffekt" - wenn man nur lang genug mit etwas Suboptimalem oder sogar Schlechtem "Arbeiten" muss, dann gewöhnt man sich so weit daran, dass man es irgendwann sogar für gut hält. Das gilt für Windows und die Einteilung in Fenstern, das gilt für SAP und deren Maskendesigns, und das gilt genauso für den ganzen Schrank an DSA-Regeln, der in den letzten 30 Jahren "produziert" wurde, die sich in vielen Bereichen ganz klar an das "deutsche Buchhalterherz" und die "deutsche Genauigkeit" wenden, grade deswegen aber trotz einer dichten Spielwelt und spannender Geschichten darin international so gut wie keine Beachtung erlangt haben. Der Ruf der Marke DSA als "Studiokiller" für Versoftungen kommt daher nicht von ungefähr.
Was ein Rollenspiel ausmacht, ist meiner Meinung nach nicht, welchen Modifikator man wann für welche Probe zu verwenden hat, oder wie genau das Charaktersystem jetzt funktioniert. Es sind die Welt und die Geschichten, die darin spielen, die in seinen Bann ziehen sollen. Es sind die Ideen für den Hintergrund, die es ausmachen. Und in dieser Hinsicht ist DSA ein absolut großartiges System. Wie gesagt, ich spreche hier immer nur für mich und meine Wahrnehmung, aber wer sich mit anderen Systemen ein wenig beschäftigt hat und deren mittlerweile großteils "geradlinigen" Regelwerke kennt, spielt DSA nicht WEGEN der Regeln. Denn dort ist es fast schon egal ob man zaubert, kämpft, ein Schloss knackt oder auf einem Highway eine Verfolgungsjagd zwischen einem Panzer und einem VTOL-Jet inszeniert, man kann das alles sogar als Neuling schon fast ohne Regelwerkblättern, denn es funktioniert eigentlich alles nach dem exakt gleichen Schema, was auch Spielgruppen ohne Jahrzehntelange Spielerfahrung ein flüssiges Spielen erlaubt. So jemand spielt DSA TROTZ der Regeln, weil die Welt einfach nach so langer Zeit und so vielen Publikationen eine Dichte und Tiefe bietet, die nur "wirklich alte" Spielsysteme zu bieten haben.
Ich hab das schon ein paar Mal gesagt, und ich weiß dass es an den "Regel-Evangelisten" abprallt wie Wasser auf geöltem Stahl: Die DSA-Regelbücher sind *keine* Gesetzbücher, an die sich die ganze Welt sklavisch zu halten hat. Jedes einzelne Rollenspiel-Regelwerk, und das gilt auch für DSA, hat in seinem Vorwort den Hinweis darauf, dass diese Regeln ein Rüstzeug darstellen sollen, dass aber der SPIELSPASS DER GRUPPE im Vordergrund zu stehen hat. "Wenn eine Regel euch nicht gefällt oder keinen Spaß macht, dann ändert sie, oder lasst sie ganz weg, oder definiert eine Hausregel". Ja, wir spielen hier nicht im kleinen Kreis einer Gruppe, sondern wir als Entwickler müssen entscheiden, was Spaß macht. Und ich persönlich habe glaube ich oft genug bewiesen, dass ich kein Problem mit Regelanpassungen habe. Aber ich habe offen gesagt ein großes Problem mit "das steht so in der Bibel, darum ist es Gesetz, und jedes weitere Argument geht in meinem "lalala" unter". Satinav's Ketten und Memoria sind gänzlich ohne jegliche DSA-Regeln ausgekommen, hatten trotzdem ein riesengroßes DSA-Logo auf der Packung und haben sich auch verkauft.
Egal. Die Diskussion hatten wir schon zig mal, und sie läuft jedes Mal aufs selbe raus, nämlich dass wir uns einigen, uns nicht einig zu sein

. Ich ersuche nur beide Argumentationsseiten dazu, von abwertenden Aussagen wie (sinngemäß) "du kannst ja nicht viel Ahnung haben" oder "Jaja, der DSA-Obermeister" abzusehen. Grade in dieser Frage wird es immer unterschiedliche Meinungen geben, keine dieser Meinungen wird aber je "endgültig richtig" sein. Mal abgesehen, "im Internet zu gewinnen" ist sowieso eine Illusion

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